Eine ukrainische Drohne hat womöglich Hunderte Kilometer weit weg im Norden Russlands ein Gasterminal in Brand gesetzt. Welche neue Strategie dahinter steckt und welche Erfolgschancen sie hat, erklärt Oberst Markus Reisner ntv.de
ntv.de: Russland meldete am Sonntag einen brennenden Terminal für Flüssiggas im Ostseehafen Ust-Luga bei Sankt Petersburg. Der Brand sei durch externe Einwirkung entstanden, hieß es. Wenn es die Ukrainer waren, dann müsste eine Drohne mehr als 800 Kilometer über russisches oder belarussisches Territorium geflogen sein. Ohne erfasst zu werden. Ist das so spektakulär, wie es klingt?
Markus Reisner: Nach den jetzt vorliegenden Informationen wissen wir, dass bei den letzten ukrainischen Drohnenangriffe Distanzen von über 1200 Kilometern zurückgelegt wurden. Beim Angriff in Ust-Luga wurde ein Gasterminal zumindest beschädigen, wenn nicht gar zerstört. Das spiegelt tatsächlich die neue Strategie Kiews wider. Ende letzten Jahres haben ukrainische Offizielle ganz offen das Ziel für 2024 umrissen, nämlich von der Offensive des Sommers 2023 in die Defensive überzugehen, also das gewonnene Gelände zu halten. Gleichzeitig will man aber versuchen, den Krieg nach Russland hineinzutragen.
Ein schwieriges Unterfangen, da die westlichen Unterstützer ja sagen: Mit unseren weitreichenden Waffensystemen darf russisches Territorium nicht attackiert werden. Nun schafft die Ukraine das mit eigenen Drohnen?
Wir sehen seit Jahreswechsel, dass die Ukraine hier versucht, die ersten Ergebnisse zu erzielen und mit Drohnen Richtung Leningrad vorstößt, bis Belgorod oder bis nach Moskau. Da kann ein einzelner Treffer eine für Russland verheerende Wirkung auslösen, in diesem Fall umfangreiche Brände und Explosionen.
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Trotz der Quantität heißt es von der Front seit Wochen, dass die Russen mit hohen Verlusten kämpfen und dabei nur wenig vorrücken, also nicht sehr erfolgreich sind. Zugleich geht die NATO davon aus, dass Russland in den nächsten Jahren auch NATO-Territorium angreifen könnte. Widerspricht sich das?
Dieser offensichtliche Widerspruch in sich lässt sich nur auflösen, indem man ehrlich sagt, dass man den Gegner bis jetzt unterschätzt hat. Darauf weise ich seit dem Frühjahr 2022 immer wieder hin. Wir müssen die Situation ernst nehmen, weil Russland hier tatsächlich einen massiven Aufwuchs versucht, aus der Waffenproduktion heraus und aus dem ständigen Zulauf von Soldaten, die man rekrutiert - ukrainische Offizielle nehmen an, circa 1000 bis 1100 Mann pro Tag. Das hat ein immenses Potenzial. Man geht davon aus, dass derzeit bis zu 500.000 russische Soldaten in der Ukraine sind. Zumindest 462.000 an der Front und 35.000 als Besatzungstruppen. Das Doppelte beziehungsweise Zweieinhalbfache von dem, mit dem Russland im Februar 2022 einmarschiert ist. Und diese Soldaten rücken trotz massiver Verluste vor, Meter für Meter.